Gesellschaften erinnern nicht alles, was geschehen ist – und das ist kein Zufall. Vergessen ist ein sozialer Prozess, oft ebenso gezielt gestaltet wie das Erinnern selbst. Wer mit strategischer Beratung im Bereich kollektives Gedächtnis arbeitet, muss verstehen, wie und warum bestimmte Ereignisse verdrängt, umgedeutet oder aktiv geleugnet werden. Nur so lassen sich wirksame Gegenstrategien entwickeln.
Eine erste Form ist das Verdrängen. Hier werden belastende Ereignisse nicht geleugnet, aber aus dem öffentlichen Diskurs ferngehalten. Nach Kriegen oder politischen Umbrüchen ist diese Dynamik häufig zu beobachten: Täter- und Mitläufergenerationen vermeiden offene Gespräche, Archive bleiben verschlossen, Lehrpläne blenden kritische Kapitel aus. In den 1950er-Jahren etwa prägte in Teilen Deutschlands das „Schweigen der Trümmerjahre“ den Umgang mit der NS-Vergangenheit – ein kollektives Innehalten, das Aufarbeitung verzögerte.
Eine zweite Form ist die Umdeutung oder „Narrativverschiebung“. Hier werden historische Tatsachen zwar anerkannt, aber ihre Interpretation wird verändert. Opfer werden zu Nebendarstellern, Ursachen relativiert oder Täter als Opfer der Umstände inszeniert. Dieser Prozess kann subtil verlaufen – etwa durch die Wahl bestimmter Begriffe in Medien oder Schulbüchern – oder explizit, wenn politische Akteure die Deutungshoheit beanspruchen. Strategisch betrachtet ist diese Form des Vergessens besonders anspruchsvoll zu adressieren, weil sie im Gewand der Erinnerung auftritt.
Am deutlichsten und konfrontativsten zeigt sich das Leugnen. Es ist nicht nur ein Nicht-Erinnern, sondern eine aktive Zurückweisung historischer Fakten. Holocaustleugnung, aber auch die Leugnung anderer Genozide wie in Ruanda oder Srebrenica, operieren oft mit pseudowissenschaftlichen Argumenten, selektiver Quellenwahl oder Verschwörungstheorien. Im digitalen Zeitalter verbreiten sich solche Narrative über soziale Medien in rasanter Geschwindigkeit und finden Zielgruppen, die empfänglich für geschlossene, simplifizierende Weltbilder sind.
Daneben existiert eine Form des Vergessens, die als Überlagerung bezeichnet werden kann. Hier verschwinden Ereignisse nicht aktiv aus der Erinnerung, sondern werden durch neue Krisen, Katastrophen oder Medienereignisse verdrängt. In einer Nachrichtenwelt, die in Minutenrhythmen tickt, rücken Themen schnell aus dem Fokus – nicht, weil sie gelöst wären, sondern weil sie im Strom neuer Schlagzeilen untergehen. Strategisch erfordert diese Form, Erinnerung immer wieder zu aktualisieren und an aktuelle Diskurse anzubinden.
Eine weitere Variante ist das funktionale Vergessen. Staaten oder Organisationen können bewusst entscheiden, bestimmte Aspekte der Vergangenheit nicht prominent zu behandeln, um soziale Spannungen zu vermeiden oder politische Prozesse zu stabilisieren. In Übergangsgesellschaften, die von Bürgerkrieg oder Diktatur zur Demokratie wechseln, wird dieser Ansatz manchmal als „pragmatisch“ gerechtfertigt. Aus strategischer Sicht birgt er jedoch das Risiko, dass unaufgearbeitete Konflikte später wieder aufflammen.
Strategieberatung im Feld des kollektiven Erinnerns muss all diese Formen identifizieren und analysieren. Das erfordert interdisziplinäre Expertise: Historiker:innen liefern die Faktenbasis, Soziolog:innen verstehen die Dynamiken sozialer Gruppen, Kommunikationsprofis erkennen Muster in Narrativen und digitalen Medienströmen. Wichtig ist zudem, Machtstrukturen und Interessenlagen zu berücksichtigen: Wer profitiert vom Vergessen, und wer leidet darunter?
Gegenstrategien können von Bildungsprogrammen und öffentlicher Archivarbeit bis zu gezielten digitalen Kampagnen reichen. Für das Verdrängen braucht es geschützte Dialogräume, für die Umdeutung evidenzbasierte Gegennarrative, für das Leugnen klare rechtliche Rahmen und schnelles Fact-Checking. Überlagerung lässt sich nur verhindern, wenn Erinnerung kontinuierlich in aktuelle Diskurse eingebunden wird. Funktionales Vergessen schließlich verlangt eine ehrliche gesellschaftliche Debatte über die Balance zwischen Stabilität und Wahrheit.
Vergessen ist nicht bloß ein Defizit – es ist ein politisches Instrument. Wer im Bereich kollektives Erinnern strategisch arbeitet, muss es als solches verstehen, um wirksam dagegenhalten zu können. Nur dann können Gesellschaften eine resiliente Erinnerungskultur entwickeln, die der Wahrheit verpflichtet bleibt und zukünftigen Generationen Orientierung bietet.
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