Erinnerungsarbeit – im internationalen Diskurs als Memory Work etabliert – ist mehr als das Speichern von Fakten. Sie ist ein aktiver, oft politischer Prozess, der entscheidet, welche Stimmen hörbar bleiben, wie wir Gewaltgeschichte einordnen und wie künftige Generationen Zugang zu belastbaren Quellen erhalten. Im digitalen Zeitalter verlagert sich diese Arbeit in Datenräume: audiovisuelle Zeitzeugnisse, Deportationslisten, Gerichtsakten, Satellitenbilder, forensische 3D-Rekonstruktionen. Damit daraus dauerhaft öffentliches Wissen wird, braucht es bewusst gestaltete Dateninfrastrukturen – technisch robust, normiert und sozial eingebettet.
Drei Prinzipien sind dabei leitend. Erstens: Langzeitlesbarkeit. Der bloße Erhalt von Bits genügt nicht; Formate, Metadaten und Kontext müssen so gepflegt werden, dass Materialien in 30 oder 100 Jahren interpretierbar bleiben. Das OAIS-Referenzmodell (ISO 14721) hat hierfür die internationale Architektur geliefert; es prägt Workflows von Speicherformaten bis zur Provenienzdokumentation. Zweitens: FAIR-Zugänglichkeit – Daten sollen auffindbar, zugänglich, interoperabel und wiederverwendbar sein. Das bedeutet persistenten Identifikatoren, offene Schnittstellen und klare Rechtekennzeichnung. Drittens: Vertrauenswürdigkeit. Mit Normen wie DIN 31644 und Zertifizierungen (z. B. nestor-Siegel) lässt sich nachprüfbar machen, ob ein Archiv die Anforderungen an Organisation, Technik und Risiko-Management erfüllt.
Wie diese Prinzipien konkrete Wirkung entfalten, zeigen Zahlen: Die USC Shoah Foundation bewahrt mehr als 55 000 videografierte Zeitzeugeninterviews; ein Großteil ist über das Visual History Archive forsch- und lehrbar. Yad Vashem verzeichnet über 4,8 Millionen Namen in der Central Database of Shoah Victims’ Names und ergänzt kontinuierlich neue Quellen und Gedenkblätter. Die Arolsen Archives verwalten rund 30 Millionen Dokumente zu NS-Verfolgten – vom Häftlingsbogen bis zur Zwangsarbeitskartei – und stellen stetig wachsende Bestände online bereit. Solche Dimensionen sind Chance und Verpflichtung zugleich: Nur mit stabilen Identifiern, normierten Vokabularen und vernetzbaren APIs lassen sich Personen, Orte und Ereignisse über Institutionen und Ländergrenzen hinweg zusammenführen.
Memory Work reagiert zudem auf eine harte Realität der Digitalmoderne: Link-Rot und Formatwandel. Inhalte verschwinden, Plattformen ändern Geschäftsmodelle, proprietäre Codecs sterben. Wer heute Web-Zeugnisse von Leugnung, Hass und Aufklärung zum Holocaust, zu Srebrenica, Ruanda oder dem Völkermord an den Armenier:innen sichern will, braucht planvolle Webarchivierung, rechtlich geklärte Crawl-Strategien und transparente Auswahlkriterien. Nicht alles kann – oder soll – bewahrt werden; aber was bewahrt wird, muss überprüfbar, zitierfähig und kontextualisiert sein. Genau hier schlägt die Stunde kuratierter Datensammlungen, in denen technische Metadaten (Checksummen, Migrationspfade) und inhaltliche Metadaten (Personen, Orte, Ereignisse, Zeugnisgattungen) ineinander greifen.
Forschungskonsortien wie NFDI4Memory bündeln in Deutschland diese Kompetenzen und übertragen FAIR-Praktiken in die historische Praxis – von Normdaten (GND, VIAF) über kontrollierte Vokabulare bis zu Leitlinien für maschinenlesbare Zitationen. Für Bildung und Zivilgesellschaft heißt das: Lernplattformen können verifizierte Ausschnitte aus Zeitzeugeninterviews mit topografischen Daten, Gerichtsakten und Presseberichten verbinden; Museen publizieren offene Datensätze zu Objekten; Communities annotieren und verknüpfen – und all das bleibt rechtlich und technisch tragfähig.
Die ethische Dimension bleibt zentral. Digitale Re-Use-Szenarien dürfen Zeugnisse nicht ästhetisieren oder entkontextualisieren. Speicher- und Publikationsentscheidungen brauchen Zustimmung, Schutz sensibler Informationen und Mechanismen gegen Missbrauch. Bewusst gestaltete Dateninfrastrukturen sind deshalb nicht nur IT-Projekte, sondern demokratische Infrastruktur: Sie entscheiden mit, ob Aussagen überprüfbar, marginalisierte Perspektiven auffindbar und Falsifizierungen sichtbar bleiben. So wird aus Datenpflege gelebte Verantwortung – und Erinnerung überlebt den technischen Wandel.
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