Erinnerungskultur heute: Zwischen Gedenkstätte und VR-Brille

Warum Erinnerung heute mehr ist als bloßes Gedenken – und welche modernen Wege Deutschland und andere Länder einschlagen.

Die Erinnerung an die Schrecken des Nationalsozialismus, an rassistische Gewalt, Kolonialverbrechen und totalitäre Regime ist kein abgeschlossenes Kapitel – sie bleibt eine zentrale gesellschaftliche Aufgabe. Gerade in Zeiten, in denen Zeitzeug:innen seltener werden und populistische Stimmen lauter, erlebt die Erinnerungskultur in Deutschland eine Phase der Erneuerung und Neuausrichtung. Moderne Methoden, digitale Werkzeuge und partizipative Ansätze spielen dabei eine zunehmend wichtige Rolle.

Erinnern beginnt in der Schule

Ein zentrales Element der aktuellen deutschen Erinnerungspolitik ist die Verankerung von Gedenkstättenbesuchen im Schulunterricht. Die Kultusministerkonferenz plant, den Besuch solcher Orte fest in den Lehrplänen der Bundesländer zu verankern. Ziel ist es, Gedenkstätten wie Sachsenhausen, Neuengamme oder Bergen-Belsen nicht als „Exkursion“, sondern als festen Bestandteil der historisch-politischen Bildung zu begreifen.

Ergänzend dazu fördert das Programm „Jugend erinnert“ außerschulische Bildungsfahrten: 2024 wurden etwa 6.000 Jugendliche mit Mitteln des Bundes unterstützt, um Gedenkstättenbesuche jenseits des Klassenzimmers zu erleben.

Digital, mobil, interaktiv – Erinnern im 21. Jahrhundert

Moderne Erinnerungskultur bedeutet aber auch, neue Wege zu gehen – gerade in der digitalen Vermittlung. Apps wie der „Nazi Crimes Atlas“ ermöglichen Nutzer:innen, mehr als 25.000 Orte von NS-Verbrechen auf einer interaktiven Karte zu entdecken, ergänzt durch Originaldokumente und multimediale Inhalte.

Besonders innovativ ist das Projekt „In Echt?“, das seit 2025 in einem mobilen Ausstellungs-Truck durch deutsche Städte tourt. Ausgestattet mit VR-Brillen erleben Besucher:innen hier virtuelle Zeitzeugengespräche – eine Brücke zwischen Vergangenheit und Gegenwart.

Auch inklusive Formate gewinnen an Bedeutung: In Bayern entsteht derzeit eine App, die barrierefrei Zugang zu NS-Erinnerungsorten bietet – mit Podcasts, Social-Media-Funktionen und partizipativer Nutzerführung.

Neue Orte, neue Perspektiven

Die Erinnerungskultur in Deutschland weitet ihren Fokus zunehmend über die NS-Zeit hinaus. Das neue Dokumentationszentrum „Offener Prozess“ in Chemnitz widmet sich dem NSU-Komplex und der Perspektive von Betroffenen rechter Gewalt. Der Ort versteht sich als Lern- und Diskussionsplattform, mit Formaten wie „Critical Walks“ und partizipativen Ausstellungen.

Auch partizipative Methoden wie Erzählcafés, biografische Workshops oder generationenübergreifende Archive – etwa die „Bibliothek der Generationen“ in Frankfurt – stärken die individuelle Dimension von Erinnerung.

International: Erinnerung trifft Mixed Reality

Auch weltweit setzen Gedenkstätten und Museen auf digitale, immersive Erfahrungen. Mixed-Reality-Projekte kombinieren Augmented-Reality-Brillen mit Theater und Performance, um komplexe oder tabuisierte Geschichten erlebbar zu machen – etwa zur Sklaverei oder Kolonialgeschichte. Interaktive Scrollytelling-Projekte oder digitale Zeitzeugenarchive erschließen neue Zielgruppen.

Erinnern heißt handeln

Die moderne Erinnerungskultur will nicht nur „Nie wieder“ mahnen, sondern Handlungskompetenz vermitteln: gegen Antisemitismus, gegen Rassismus, für eine demokratische, offene Gesellschaft. Gedenkstätten, digitale Projekte, Bildungsinitiativen – sie alle zeigen: Erinnern ist heute vielfältiger, zugänglicher und partizipativer denn je.

Und das ist gut so – denn die Vergangenheit vergeht nie ganz. Aber wir entscheiden, wie wir mit ihr umgehen.