Kollektives Erinnern und Vergessen: Die Lehren der Memo-Studien

Wenn Gesellschaften sich erinnern – oder vergessen: Das kollektive Gedächtnis formt, wie Gemeinschaften ihre Geschichte begreifen. Insbesondere der Holocaust ist ein prägendes Beispiel dafür, wie Erinnerungspolitik, Bildung und gesellschaftliche Narrative beeinflussen, was erhalten bleibt – und was verloren geht. Memo-Studien und Forschungen zum kollektiven Vergessen bieten wertvolle Einblicke in diese Prozesse.

Erinnern gegen das Vergessen
Der französische Historiker Maurice Halbwachs prägte 1925 den Begriff des „kollektiven Gedächtnisses“. Er argumentierte, dass Erinnerungen immer sozial eingebettet sind – sie entstehen, werden erhalten oder verschwinden durch Gruppenprozesse. Dies wurde durch moderne Memo-Studien untermauert: Forschende untersuchen, wie Ereignisse wie der Holocaust in nationalen und kulturellen Gedächtnissen präsent bleiben oder verdrängt werden.

Eine zentrale Erkenntnis: Erinnerung ist kein statischer Prozess. Laut einer Studie des Memorial de la Shoah (2021) gaben in Frankreich 42 % der unter 35-Jährigen an, „nur wenig“ über den Holocaust zu wissen. Ähnliche Tendenzen zeigte eine Umfrage in Deutschland: Laut einer Forsa-Umfrage (2020) wussten 47 % der 14- bis 17-Jährigen nicht, was der Begriff „Auschwitz“ genau bezeichnet.

Mechanismen des kollektiven Vergessens
Studien wie jene von Aleida Assmann (2018) zeigen, dass kollektives Vergessen aktiv betrieben werden kann: durch Bildungsdefizite, politische Narrative oder schlichtes Desinteresse. Während in Deutschland die Erinnerung an den Holocaust in der öffentlichen Bildung verankert ist – etwa durch verpflichtende Gedenkstättenbesuche in vielen Bundesländern – zeigen internationale Vergleiche ein anderes Bild.

Eine Studie der Claims Conference (2020) ergab, dass 63 % der US-amerikanischen Millennials und Angehörigen der Generation Z nicht wussten, dass sechs Millionen Juden im Holocaust ermordet wurden. Erschreckenderweise glaubten 11 %, Juden hätten den Holocaust selbst verursacht. Forscher wie Harald Welzer beschreiben diese Phänomene als „kommunikatives Vergessen“: Familien, Medien und die Gesellschaft filtern Geschichte so, dass sie zur Gegenwart passt – auch auf Kosten der historischen Genauigkeit.

Holocaust: Global unterschiedliche Erinnerungskulturen
Obwohl der Holocaust ein global anerkanntes historisches Ereignis ist, variiert seine Erinnerung massiv. In Israel ist der Holocaust tief in die nationale Identität eingebettet, etwa durch den Gedenktag Yom HaShoah. In osteuropäischen Ländern hingegen zeigt sich eine Tendenz zur Relativierung oder gar Leugnung, wie eine Analyse der European Union Agency for Fundamental Rights (2018) bestätigt.

Auch im digitalen Raum entstehen neue Herausforderungen: Der Historiker Timothy Snyder warnt davor, dass soziale Medien kollektives Vergessen beschleunigen könnten, indem sie Desinformation und Holocaust-Leugnung verstärken.

Die Erinnerung an den Holocaust steht exemplarisch für die Dynamik kollektiver Gedächtnisprozesse. Memo-Studien zeigen deutlich: Ohne aktive Pflege der Erinnerung droht ein gesellschaftliches Vergessen, das weitreichende Konsequenzen für Demokratie und Menschenrechte haben kann. Bildung, Gedenkpolitik und eine kritische Auseinandersetzung mit der Vergangenheit sind entscheidend, um die Lehren der Geschichte lebendig zu halten.

Quellen:

  1. Assmann, Aleida (2018): Erinnerungspolitik. Wandlungen im internationalen Gedächtnis.
  2. Memorial de la Shoah (2021): Rapport sur la mémoire du génocide.
  3. Forsa-Institut (2020): Studie: Wissen über den Holocaust in Deutschland.
  4. Claims Conference (2020): Holocaust Knowledge and Awareness Study.
  5. European Union Agency for Fundamental Rights (2018): Experiences and perceptions of antisemitism.